Die Künstlerin und Filmemacherin Pınar Öğrenci lebt in Berlin. 2010 gründete sie die Kunstinitiative MARSistanbul. Die poetischen und auf Erfahrungen beruhenden, videobasierten Arbeiten und Installationen der aus der Architektur kommenden Öğrenci machen die Spuren materieller Kultur in verschiedenen Regionen sichtbar, die von Vertreibung und Verschwinden der Bewohnenden betroffenen sind.
Sie verstehen sich als dekoloniale und feministische Untersuchungen an der Schnittstelle von gesellschaftlicher, politischer und architekturbezogener Forschung sowie von den Geschichten Einzelner, Alltagspraktiken, Musik und Literatur. Als solche gehen sie Migrationsursachen wie Krieg, staatlicher Gewalt, kollektiven Bewegungen, Naturkatastrophen oder industriellen und städtischen Entwicklungen nach.
Für Aşît (2022), ihren neuen, für die documenta fifteen produzierten Film, kehrt Öğrenci in die Heimatstadt ihres Vaters zurück. Müküs liegt in einer Bergregion im südlichen Van. Diese ehemalige Hauptstadt der urartäischen Zivilisation und der armenischen Vaspuragan-Dynastie befindet sich an der Grenze der Türkei zum Iran und hat bis heute einen hohen Anteil an kurdisch sprechender Bevölkerung. Bis 1915 war die Stadt im Bildungssystem und der Weitergabe kulturellen Erbes mehrsprachig gewesen: Armenisch, Kurdisch, Farsi und Arabisch existierten nebeneinander. Für den Film ließ sich Öğrenci von Stefan Zweigs letztem Werk Schachnovelle (1941) inspirieren – einer Art Psychothriller, in dem das Schachspiel zur Überlebensstrategie unter faschistischer Herrschaft wird.
Aşît, was auf Kurdisch Lawine oder Katastrophe bedeutet, bezieht sich sowohl auf die drohende Lawine, die Müküs vom Rest der Welt abschneidet, als auch auf „Meds Yeghern“ (die große Katastrophe) im Jahr 1915, als 1,5 Millionen Armenier*innen deportiert, getötet oder aus Anatolien vertrieben wurden. Selbst genähte Taschentücher tauchen, ähnlich wie in früheren Werken, als Installationselement auf. Dieses Mal wurden sie von Frauen angefertigt, die selbst unter dem bewaffneten Konflikt in Van leiden mussten.
Öğrencis Arbeiten wurden zuvor bereits in zahlreichen Museen und anderen Kunstinstitutionen gezeigt, unter anderem im Times Art Center Berlin, bei SAVVY Contemporary, Berlin, im Kunstraum Bethanien Kreuzberg, Berlin, auf der Art Encounters Biennial, Timișoara, der Gwangju Biennale, der Athens Biennale, in der Tensta Konsthall, Stockholm, bei Survival Kit, Riga, im Kunst Haus Wien, dem Istanbuler Off-Site-Projekt für die Sharjah Biennial 13, im MAXXI, Rom, und bei SALT and Depo in Istanbul. 2017 war ihre erste Einzelausstellung außerhalb Deutschlands im Kunst Haus Wien zu sehen. Öğrencis erster Dokumentarfilm Gurbet is a home now wurde im Wettbewerb des 40. Istanbul Film Festival gezeigt und gewann 2021 auf dem DOCUMENTARIST Istanbul Film Festival den Spezialpreis der Jury. Derzeit lehrt sie an der Weißensee Kunsthochschule Berlin im Masterstudiengang Raumstrategien.
Eingeladene Akteur*innen
Ayşe Dorak
Didare İşleyen
Nuriye İşleyen
Neşe Polat