„Als Mitglieder der Findungskommission für die Künstlerische Leitung der documenta fifteen stehen wir zu unserer Auswahl von ruangrupa, die diesjährige Ausgabe dieser historischen Ausstellung in Kassel zu kuratieren. Wir haben den Prozess der Entwicklung der documenta fifteen aus der Ferne verfolgt. Die Ausstellungen und Veranstaltungen, an denen wir während der Vorbesichtigungs- und Eröffnungstage teilnahmen, übertrafen all unsere Erwartungen. Insgesamt fanden wir die Präsentationen generös, zum Nachdenken anregend, lebendig und einladend. Die documenta fifteen bietet ein Bild einer Welt, die aus vielen Welten besteht, ohne Hierarchie oder Universalismus. Wir möchten den Kurator*innen sowie allen lumbung member als auch dem gesamten documenta Team zu ihren herausragenden Leistungen gratulieren. Sie zeigen uns eine Vision von kollektiver Kunst und wie eine künftige, öffentliche Rolle der Kunst aussehen könnte.
Wir sind daher mehr als erschüttert über die Entdeckung von Karikaturen, die nicht anders als antisemitisch gelesen werden können. Wir sehen einen Unterschied zwischen Kritik am israelischen Staat und Antisemitismus, aber Bilder, die auf Nazi-Karikaturen verweisen, dürfen keinen Raum in dieser Ausstellung haben. Wir verstehen die Verletzungen, die sie verursacht haben. Wir unterstützen daher die Entscheidung der Künstler*innen, von Dr. Sabine Schormann und ihrem Team sowie des Aufsichtsrates, das Werk People’s Justice von Taring Padi vom Friedrichsplatz zu entfernen.
Das Erbe des europäischen Kolonialismus und die anhaltende Matrix globaler Machtverhältnisse sind Themen, die fast alle Lebewesen dieses Planeten berühren. Diese Zusammenhänge und gemeinsame Anliegen kommen in Westeuropa erst allmählich an und wir sind davon überzeugt, dass diese documenta einen bedeutenden Schritt dahingehend macht, ihnen im kulturellen Bereich Gestalt zu geben. Wir möchten daher unseren Respekt für das indonesische Künstlerkollektiv Taring Padi und seinen langjährigen Kampf gegen die Unterdrückung und Diktatur während der Suharto-Jahre in Indonesien zum Ausdruck bringen.
Wenn wir an die öffentliche Debatte appellieren können, dann ist es, allen 1.500 Künstler*innen dieser vielschichtigen und kraftvollen Ausstellung Gehör zu leisten. Wir ermutigen alle, darauf zu schauen, was ruangrupa, das Künstlerische Team und deren Partner*innen zusammengestellt haben. Sie werden den Klang einer Welt hören, die sich über die Zeitzonen der Welt hinweg erhebt – eine Welt, die sagt, dass gegenwärtige Macht- und Beziehungssysteme nicht die Zukunft des Planeten bestimmen sollten. Klimakollaps und soziale Ungleichheit sind inakzeptabel, und es gibt in der Tat Wege, diese Last gemeinsam zu tragen. Das ist es, was uns die documenta fifteen bedeutet, und wir hoffen, dass sie dies auch für viele andere bedeuten kann.
Ein solch vielstimmiger Prozess der Wahrheitsfindung und Aussöhnung wird weder einfach noch ohne Fehler verlaufen. Es ist ein seltenes und ehrgeiziges Unterfangen in dieser Größenordnung, und wir sprechen der Stadt Kassel und dem Land Hessen unsere Wertschätzung und unseren Respekt aus, für ihre Offenheit, für diesen paradigmatischen Perspektivwechsel. Wir möchten auch Dr. Sabine Schormann, Generaldirektorin der documenta und Museum Fridericianum gGmbH und ihrem Team danken für die Ermöglichung dieses gewaltigen Unterfangens mit herausragenden Ergebnissen trotz einer globalen Pandemie. Nicht zuletzt möchten wir ruangrupa, dem Künstlerischen Team der documenta fifteen und allen daran beteiligten Kollektiven und Einzelpersonen unsere bedingungslose Unterstützung aussprechen für die Fortsetzung dieses nicht-hierarchischen Pluriversums, zu dem sie uns alle einladen, um zu sehen und hören, zu diskutieren und daran teil zu haben.“
Amar Kanwar, Charles Esche, Elvira Dyangani Ose, Frances Morris, Gabi Ngcobo, Jochen Volz, Philippe Pirotte, Ute Meta Bauer